Hier die beeindruckenden und unter die Haut gehenden Worte von Amanda Gorman!
Übersetzt von Peter Eicher.

DER HÜGEL, DEN WIR ERKLIMMEN
DIE POETISCHE REVOLUTION ZUR INAUGURATION VON JO BIDEN

Ohne Umschweif, tänzerisch mit magischen Händen hat sie das Unheil der beinahe gelungenen Zerstörung der Vereinigten Staaten in die Vision einer Heilung verwoben. 
Sie hat nichts verdrängt und nichts heraufbeschworen, die junge Amanda Gorman.
Aber sie hat es getroffen. Die ganze hochzeremoniale Welt des Kapitol hielt auf einmal den Atem an. 
Es war zu spüren. Es war mit Händen zu greifen, dass jetzt ausgesprochen wurde, was sich ereignet hat und was sein könnte.
Man könnte das Gedicht der kühnen Poetin eine politische Elegie nennen. Es ist aber nicht nötig, es jetzt einzuordnen. Es genügt, es zu hören. 
Oder zu realisieren.

Hier auf Deutsch,

«Wenn der Tag kommt, fragen wir uns,
wo können wir Licht finden in diesem nicht enden wollenden Schatten?
Wir durchwaten den Verlust, den wir mit uns tragen.
Wir haben dem Bauch der Bestie getrotzt.
Wir haben gelernt, dass Ruhe nicht immer Frieden bedeutet.
In den Normen und Vorstellungen von dem, was richtig sei, ist Gerechtigkeit nicht immer zu finden.
Doch in uns brach die Morgendämmerung an, bevor wir es merkten.
Irgendwie haben wir es geschafft,
irgendwie haben wir eine Nation erlebt,
die nicht zerbrochen ist
– sie ist nur noch nicht fertig.
Wir, die aus einem Land kommen und aus einer Zeit, in der ein dünnes schwarzes Mädchen von Sklaven abstammte und von einer alleinstehenden Mutter aufgezogen worden ist, wir können davon träumen, Präsident zu werden und sich als dessen Vorrednerin wiederzufinden.
Wir sind weit davon entfernt, glatt poliert zu sein, ja –
wir sind davon ab, unbefleckt zu sein,
wir gieren nicht nach vollendeter Einigung.
Wir haben vor, eine Union zu gestalten,
ein Land, prallvoll mit allen Kulturen, Farben, Charakteren und voll von Menschlichkeit.
Wir schauen nicht auf das, was zwischen uns steht, wir schauen auf das, was vor uns steht.
Wir schließen die Kluft, weil wir die Zukunft an die erste Stelle setzen und die Unterschiede hinter uns lassen.
Wir strecken die Waffen, so können wir uns umarmen.
Niemandem schaden und den Einklang mit allen – das möchten wir.
Lasst den Erdball, wenn er ansonsten nichts zu sagen hat, wenigstens gestehen, dass dies wahr ist.
Dass wir, wenn wir trauerten, wuchsen.
Wenn wir stürzten, hofften.
Und wenn wir müde wurden, haben wir versucht zu siegen, indem wir zusammenblieben.
Nicht weil wir nie wieder eine Niederlage erleben,
sondern weil wir nie wieder Spaltungen säen.
Die Bibel sagt, dass wir davon träumen dürfen, dass jeder unter seinem eigenen Weinstock und unter seinem Feigenbaum sitzen wird und niemand mehr Angst und Schrecken verbreitet.
Wenn wir es heute begreifen, dann wird dieser Sieg nicht in der Klinge liegen, sondern in den Brücken, die wir bauen.
Das ist ein Versprechen, das wir einlösen müssen.
Das ist der Hügel, den wir erklimmen.
Amerikaner zu sein, ist mehr als der Stolz, den wir erben.
Es ist die Vergangenheit, aus der wir kommen und die wir zu heilen haben.
Wir haben den Dschungel gesehen, der auf uns zukommt, um unsere Nation nicht nur durcheinander zu bringen, sondern zu zerstören.
Wird Demokratie verzögert, wird das Land zerstört.
Die Bewegung war nahe daran, zu triumphieren.
Demokratie kann verzögert werden – hie und da.
Sie kann nicht auf Dauer besiegt werden.
Dieser Wahrheit, dieser Zuversicht trauen wir.
Während unsere Augen in die Zukunft blicken,
hält die Geschichte ihre Augen auf uns gerichtet.
Das ist die Ära der gerechten Wiedergutmachung.
Wir fürchten uns in ihrem Beginnen.
Wir fühlen uns nicht bereit, die Erben einer so schrecklichen Stunde zu sein,
doch in ihr finden wir die Kraft, das neues Kapitel zu schreiben,
uns selbst Hoffnung zu machen und Lachen zu schenken,
während wir doch einst fragten,
wie wir die Katastrophe überwinden könnten?
Jetzt können wir sagen:
Wie könnte eine Katastrophe über uns herrschen?
Wir werden nicht zurückmarschieren zu dem, was war, sondern zu dem, was sein wird,
ein Land, das zerschunden ist und heil,
wohlwollend und kühn, kämpferisch und frei.
Wir werden uns nicht umdrehen oder durch Einschüchterung unterbrechen lassen, weil wir wissen, dass unsere Untätigkeit und Trägheit das Erbe der nächsten Generation sein würde.
Unsere Fehler würden zu ihrer Bürde.
Aber eines ist sicher: Wenn wir Barmherzigkeit mit Macht und Macht mit Recht verbinden, dann wird Liebe zu unserem Vermögen und wird zum Erstgeburtsrecht unserer Kinder.
So lasst uns das Land hinterlassen, das besser ist
als das uns hinterlassen wurde.
Jeder Atemzug aus meiner bronzefarbenen Brust wird diese verwundete Welt in eine wundersame verwandeln.
Wir werden von den goldbestückten Hügeln des Westens aufsteigen.
Wir werden uns aufmachen aus dem windgepeitschten Nordosten wo unsere Vorväter zum ersten Mal die Revolution realisierten.
Wir werden uns erheben aus den Städten am Seeufer der Staaten des Mittleren Westens.
Wir werden aus dem sonnenverbrannten Süden heraufkommen.
Wir bauen wieder auf, wir versöhnen uns, wir erholen uns in jedem Winkel unserer Nation.
Aus jeder Ecke, die unser Land heißt, wird unser Volk, das vielfältige und schöne, hervorkommen: ramponiert und wundervoll.
Wenn der Tag anbricht, treten wir aus dem Schatten hervor, entflammt und ohne Angst.
Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien. Dafür gibt es immer – Licht.
Wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen.
Wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.

Peter Eicher