Image by Phillip Kofler from Pixabay

Was Freundschaft bewirken kann …

In meiner Jugend war das Fußballspielen mein Lebensinhalt. Ich verbrachte jede freie Stunde mit meinen Kumpels auf dem Bolzplatz. Fast täglich sah ich am Rande des Platzes einen Jungen, der alleine mit seinem Ball vor sich hin kickte. Raphael war neu an der Schule und ging in meine Parallelklasse. Ich mochte ihn nicht ansprechen. Was soll man auch zu einem Jungen sagen, der keine Arme hat?
Bald darauf wurde ich zum neuen Kapitän der Schulmannschaft gewählt und war mächtig stolz! Ich war ein richtig cooler Typ! Unter meiner Führung siegten wir fast immer und die Mädchen scharten sich reihenweise um mich!

Am Ende der Saison hatten wir ein äußerst wichtiges Spiel, von dem unser Aufstieg in die nächste Liga abhing! Doch an jenem ereignisreichen Tag mussten wir ohne Austauschspieler ins Spiel gehen, da ein schlimmer Virus die Hälfte meiner Mannschaft lahmgelegt hatte. Die Gegner sahen darin ihre Chance und setzten noch dazu unseren besten Spieler außer Gefecht. Ich schaute hilflos in die Zuschauermenge und entdeckte dort Raphael.
Ich hatte nichts mehr zu verlieren und so rief ich ihm zu: »Hey, Raphael, kannst du uns aushelfen?« Er warf sich unser Trikot über und kam zu uns auf das Spielfeld. Lag es daran, dass unsere Gegner von dem Erscheinungsbild unseres neuen Spielers irritiert waren oder an seiner genialen Spieltechnik? Ich weiß
es nicht. Wichtig war, dass wir gewonnen haben. Und nicht einfach nur gewonnen, sondern mit einem sensationellen Ergebnis von 10:1!!! Nach dem Spiel nahm ich Raphael in die Arme, um mich bei ihm zu bedanken. Niemals werde ich diese Umarmung vergessen. Ich lernte, dass Berührungen nicht von Körperteilen kommen, sondern von Herzen! Von diesem Tag an entwickelte sich eine Freundschaft zwischen uns. Wir gingen gemeinsam zum Fußball, ins Kino und auf Partys. Raphael blühte immer mehr auf. Er wurde zum besten Spieler unserer Mannschaft. Zum Schulabschluss sollte Raphael als Schülersprecher eine Rede halten. Ich hätte nicht mit ihm tauschen wollen. Auf der Bühne vor Hunderten von Menschen zu sprechen, das war echt nicht mein Ding. Raphael bestieg sichtlich aufgeregt das Podium. Er begann seine Rede und holte weit aus. Er erklärte den Zuhörern, dass er bereits ohne Arme
auf die Welt gekommen sei. Seine Eltern hatten ihn jedoch nie seinen körperlichen Mangel spüren lassen und in seinem Heimatdorf hatte erseinen festen Platz in der Gemeinschaft. Als jedoch seine Eltern bei einem tragischen Autounfall ums Leben kamen, musste er zu seiner Großmutter ziehen. Ganz alleine in der fremden Stadt, ohne Freunde, kam er sich ziemlich verloren vor. Er schluckte kurz und sprach weiter: »Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich sah keinerlei Sinn mehr in meinem Dasein und überlegte schon, mir das Leben zu nehmen. Doch das konnte ich meiner Großmutter nicht antun, die sich so rührend
um mich kümmerte und versuchte, mir Vater und Mutter zu ersetzen.« Im Publikum vermeinte man, eine Nadel fallen zu hören. Raphael lächelte mir dankbar zu und fuhr fort: »Die Lebensfreude kehrte an jenem Tag wieder zu mir zurück, an dem mich mein bester Freund auf das Fußballfeld rief.«

© Gisela Rieger; aus dem Buch „Geschichten die dein Herz berühren“ ; ISBN 978-3-00-053788-2